Neurodiversität als Herausforderung
Maria Zens – Bildungsreferentin im Sozial- und Gesundheitswesen, Dipl. Heilpädagogin, Dipl. Sozialarbeiterin, Religionspädagogin
Diversität ist von der Natur gewollt
Das Wissen um Diversität rückt immer mehr in den Fokus in Bildung und Betreuung. Im Grunde wissen wir um die Verschiedenheit und Vielfalt der Menschen und haben sogar Freude daran. Das gilt zum Beispiel für Talente, Kreativität und besondere Leistungen. Wir freuen uns über Kinder, die bewundernswerte Begabungen zeigen. Wenn die Diversität aber bedeutet, mit unangepassten Verhaltensweisen umgehen zu müssen, dann wird sie schnell zu einer Herausforderung in Krippe, Kita und Schule.
Diversität betrifft alle Bereiche menschlicher Existenz. Das Aussehen und die Hautfarbe, Interessen und Begabungen, Empfindungen und Handlungen… alles ist divers. Nehmen wir beispielhaft das große Feld der Kreativität und ihre Wirkung. Ein Gemälde oder anderes Kunstwerk kann von einer Person als wunderschön empfunden werden und eine andere findet es uninteressant. Das gleiche gilt für Musik, Tanz und Theater.
Ein witziges Beispiel ist meines Erachtens die Vorliebe oder Abneigung gegenüber Lakritz. Der Eine mag sie, der Andere verabscheut Lakritz. Wie ist es mit Ihnen? Es gibt da die Idee vom sogenannten Lakritz-Äquator. Demnach mögen die meisten Menschen nördlich der Rhein-Main-Linie gerne Lakritz und die südlich dieser Linie geborenen Menschen verabscheuen Lakritz. Wobei es natürlich – wie immer – Abweichungen von dieser Regel gibt. Wir sind eben divers.
Neurodiversität kann irritieren
Darum geht es also bei der Diversität. Die Neurodiversität geht noch einen großen Schritt weiter und beschreibt Unterschiede, die als befremdend und irritierend erlebt werden und die Betroffene an den Rand der Gesellschaft bringen können. Sie beinhaltet gravierende Unterschiede in der Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitung und im Erlernen von Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben und Rechnen. Neurobiologische Unterschiede können sich auswirken auf Orientierung und Aufmerksamkeit. Besonderheiten können sich in einer hohen Ablenkbarkeit durch besondere Reize zeigen und im sozialen Miteinander durch leichte Irritierbarkeit, durch Rückzug oder besondere Formen der Interaktion.
Neurodivergenzen im Einzelnen
Unsere Gesellschaft ist neurodivers und die jeweiligen Besonderheiten werden als Neurodivergenzen bezeichnet. Es sind im Einzelnen ADHS, Autismus, Dyslexie, Dyskalkulie, Rot-Grün-Blindheit, Hyperfantasie, Hochbegabung und einige mehr. Es handelt sich bei den Neurodivergenzen um Besonderheiten – die gleichzeitig ganz natürlich sind, denn sie sind von der Natur gegeben.
Terminologisch sollte mit Bedacht vorgegangen werden, um Pathologisierungen zu vermeiden. Gegenüberstellungen wie Normalität und Abweichungen, Gesundheit und Krankheit, Regelkonformität und Unregelmäßigkeit sollten vermieden werden. Denn es handelt sich bei allen Formen menschlichen Daseins um natürliche Normvarianten.
Neurodivergenzen und Ausgrenzungen
Sobald ein neurodivergentes Kind unter den gesellschaftlichen Bedingungen und Erwartungen leidet, braucht es Unterstützung. Eine Neurodivergenz ist natürlich und kann trotzdem in einer neurotypischen Welt zu Problemen für den betroffenen Menschen und auch für sein Umfeld führen. Insbesondere im Schulalltag wird von allen Schüler:innen erwartet, dass sie gut lernen und „funktionieren“. Für den Lernprozess sind aber auch die Betreuer:innen und Lehrkräfte verantwortlich.
„Wenn das Kind aus dem Rahmen fällt, ist der Rahmen zu klein“ – diese Weisheit, sofern sie verinnerlicht wird, führt unweigerlich zur Reflexion der Bedingungen in den Betreuungs- und Bildungseinrichtungen. Wie aber kann der Rahmen angepasst werden? Was brauchen neurodivergente Menschen, um sich im Kita-Alltag und in der Schule sicher zu fühlen und sich gut entwickeln zu können? Was brauchen sie, um ihr Potenzial voll zu entfalten und Teil der Gemeinschaft zu werden? Die Antworten sind wie immer sehr individuell.
Pädagogisch diagnostizieren und verantwortungsvoll handeln
Wer die Besonderheit eines Kindes verstehen will, braucht sehr viel Geduld und Fingerspitzengefühl. Er oder sie braucht fachliche Kompetenzen, um ein Kind „lesen“ zu können. Der pädagogisch geschulte Blick auf ein Kind führt immer zu einer Arbeitshypothese, manchmal ganz unbewusst. Es entstehen Ideen und Vermutungen und das ist gut so. Man braucht ja eine Ahnung, damit man weiterforschen kann. So machen es auch Hausärzt:innen. Sie fragen nach Symptomen und untersuchen erst dann spezifisch Organe, das Blut usw..
Pädagogisch diagnostizieren heißt: durch Beobachtung, Dokumentation, Fallbesprechung und Elterngespräche der Besonderheit eines Kindes auf die Spur zu kommen und seinen Bedarf zu erkennen. Erst dann kann der Rahmen angepasst werden. Erst dann kann für und mit dem Kind eine förderliche Entwicklungs- und Lernumgebung gestaltet werden.
Auf Augenhöhe
Neurodivergenzen gibt es zahlreiche, jeder siebte Mensch sei davon betroffen, heißt es. Zeit also sich darum zu kümmern, dass diese Menschen in unseren Betreuungs- und Bildungseinrichtungen willkommen sind mit ihren Besonderheiten, willkommen und sicher. Der größte Erfolg ist dort zu erwarten, wo mit den betroffenen Kindern zusammengearbeitet wird. Dort wo diese Kinder ihre Situation selbst verstehen und erklären können, sind sie auf dem besten Weg ein aktives und selbstbestimmtes Mitglied der Gesellschaft zu werden.
Für pädagogische Fachkräfte ist das „Studium“ der Neurodivergenzen ein sicherer Weg zu individuellen Lösungen für und mit individuellen Kindern. Gleichzeitig ist es ein sehr spannendes Vorhaben, das einem die Augen öffnet – nicht nur für andere, sondern auch für die eigenen Besonderheiten. 😊
Seminare der Bildungswerkstatt zum Thema Neurodivergenz:
- Pädiatrisch-psychiatrische Diagnosen und Arztbriefe verstehen am 02.10.2025 oder am 19. & 20.02.2026
- Frühkindlicher Autismus – Grundlagen für die Arbeit mit autistischen Kleinkindern am 30.10. oder am 03.11.2025
- Neurodiversität als inklusive Herausforderung am 06.11.2025 oder am 12.06.2026
- Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen im pädagogischen Alltag am 13.11.2025