FAS oder wie heißt das nochmal?
Regina Füssler – studierte Politikwissenschaftlerin und arbeitet seit über 10 Jahren als Integrationshelferin: aus der Praxis in die Praxis
In der Turnhalle einer Grundschule unterhalte ich mich mit einer Lehrkraft. Er deutet auf ein Mädchen und meint, sie sei ganz seltsam. Sie mache keine Hausaufgaben und erzähle oft Lügengeschichten. Wenn man ihr „Mathe“ erkläre, verstehe sie es im ersten Moment. Aber am folgenden Tag sei alles wie weg, als habe sie nie davon gehört.
Ich atme tief durch. Mir ist das Mädchen aus dieser Schule auch schon aufgefallen. Und das liegt nicht nur an ihren Veränderungen im Gesicht. Ihre Oberlippe ist sehr dünn, der Kopf im Verhältnis zum Körper sehr klein, ihre Ohren sind verdickt und stehen leicht ab. Was mich am meisten irritiert, ist ihr bizarres Sozialverhalten den Mitschülern und Lehrern gegenüber. Es scheint so, als könne sie sich die üblichen Regeln des sozialen Miteinanders nicht merken und auch nicht ausführen. Dann fasse ich Mut, räuspere mich und sage mit fester Stimme: „Hast du schon von der Fetalen Alkohol Spektrumstörung gehört? Aus meiner Sicht deutet hier alles darauf hin …“ Er unterbricht mich und möchte wissen, ob ich glaube, die Mutter habe „gesoffen“. Ich verneine und führe aus, dass selbst wenig Alkoholkonsum in einem prekären Zeitfenster der fetalen Entwicklung sehr viel Schaden anrichten kann. Die Schwangere müsse nicht einmal regelmäßig trinken oder in großen Mengen Alkohol konsumieren.
Seine folgende Antwort nahm mir die Luft zum Atmen. Höchst aufgebracht entgegnet er, seine Frau habe während der Schwangerschaft auch Alkohol getrunken. Und überhaupt, ein Glas Wein oder Bier habe noch keinem geschadet. Sein Kind sei gesund. Darauf beglückwünsche ich ihn, dass wohl eine gute genetische Ausstattung hier Schlimmeres verhindert habe. Trotzdem spüre ich Wut und Ohnmacht in mir aufsteigen.
Als ich meinem Gesprächspartner von einer Langzeitstudie berichte, die zu dem Schluss kommt, dass es keine Menge an Alkohol gibt, die nicht zum Nachteil der Gehirnentwicklung ist, beeindruckt ihn das kaum. Und die Tatsache, dass FAS(D) momentan die häufigste Behinderung in Deutschland ist, findet er wenig glaubwürdig. Mir wird klar, ich kann hier nichts bewegen. Deshalb beschließe ich, das Gespräch zu beenden.
Seit über 15 Jahren arbeite ich in der Inklusion. Doktorarbeiten, Masterarbeiten und wissenschaftliche Fachartikel zeigen auf, was ich schon lange befürchte: wir kennen nur die Spitze des Eisbergs an erkrankten Kindern. Ich betreue immer wieder Kinder mit gesicherter FAS(D)-Diagnose und weiß nur allzu gut, dass es auch genügend Kinder ohne Diagnose gibt, mitten unter uns. Oft still leidend, weil ihre Hirnschädigung äußerlich nicht sichtbar ist.
FAS, was ist das? FAS (Fetales Alkoholsyndrom) ist das Vollbild der Erkrankung. FAS(D) ist die Fetale Alkohol Spektrumstörung. Das ist ein Begriff, der sämtliche bislang bekannten unterschiedlichen alkoholbedingten Symptome und Schädigungen des Fötus umfasst.
In einer Studie über „Das Fetale Alkoholsyndrom als Pädagogische Herausforderung“ untersuchten Friederike Gödecke und Till Neuhaus 2024, wieviel Wissen bei pädagogischem Fachpersonal über das Störungsbild des Fetalen Alkoholsyndroms vorhanden ist. Das Ergebnis: wenig oder kaum Kenntnisse. Auf der anderen Seite wird aus Sicht des Fachpersonals beklagt, es gäbe keine geeigneten Fortbildungsmöglichkeiten zu dieser Thematik.
Es ist mir eine Herzensangelegenheit, über das Krankheitsbild FAS/FAS(D) zu informieren. Erst wenn wir als Inklusionsfachkräfte, Lehrkräfte, Pädagogen, Betreuer oder Sozialarbeiter mehr darüber wissen, können wir typische Symptome wahrnehmen und weitergeben.
Unser Blick auf Kinder mit ungewöhnlichem Verhalten wird sich ändern und wir können vielleicht wertvolle Hinweise geben, damit ein Kind die Chance bekommt, einmal fachärztlich auf diese Erkrankung untersucht zu werden.
Gerne teile ich meine jahrelange Erfahrung und mein Wissen mit anderen. Ich freue mich, Sie vielleicht bald in meinem Onlineseminar „Kinder mit FAS(D) erkennen und begleiten – Handlungskompetenz für den pädagogischen Alltag“ zu begrüßen.
Weitere Seminare zum Umgang mit Kindern und Inklusion:
- Träumer und Denker – Schüchterne und Introvertierte Kinder in der Kita am 10.10.2025
- Inklusion in der Kita – Wie kann sie gelingen? am 10.10.2025
- Frühkindlicher Autismus – Grundlagen für die Arbeit mit autistischen Kleinkindern am 30.10. & 03.11.2025
- Neurodiversität als inklusive Herausforderung am 06.11.2025 oder am 12.06.2026
- Kinder fordern uns heraus – Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten erkennen, begleiten und unterstützen am 14.11.2025