Unaufgeregt und „Smart“ durch die Krise
Maria Zens – Bildungsreferentin im Sozial- und Gesundheitswesen, Dipl. Heilpädagogin, Dipl. Sozialarbeiterin, Religionspädagogin
Wenn die Passung zwischen Kind und Umwelt nicht gelingt
… dann gibt es kein Match zwischen Kind, Eltern und Bezugspersonen. Was ist gemeint mit diesem Gedanken aus der Züricher Langzeitstudie um Remo Largo und sein Team? Die Studie hat es sich vor Jahrzehnten zur Aufgabe gemacht, die kindliche Entwicklung an 1.000 Kindern zu untersuchen. Kinder wurden von Geburt an begleitet bis ins Jugendalter hinein, um zu verstehen, welche Merkmale stabil sind, welche Merkmale verändern sich in welcher Weise und welche Rahmenbedingungen sind der gesunden Entwicklung zuträglich.
Eine Passung ist dort erreicht, wo sich ein Kind verstanden und umsorgt fühlt. Solange es sich noch nicht selbst um die Erfüllung seiner Bedürfnisse wie Hunger, Durst, Bewegung, Kontakt, Interaktion, Ruhe und Schlaf kümmern kann, ist das Kind erheblich von dieser Passung abhängig. Werden seine Grundbedürfnisse erfüllt, kann es Urvertrauen entwickeln und steht auf sicheren Beinen, um sich später selbst um seine Anliegen kümmern zu können.
Die Selbstregulation als Königsdisziplin
Die Versorgung des Kindes in den ersten 1-2 Lebensjahren ist die Grundlage für die Entwicklung der Selbstregulationskompetenz. Kinder die adäquat begleitet und gefördert werden, entwickeln diese Kompetenz wie von selbst, spielerisch und zuverlässig.
Gelungene Selbstregulation beobachten wir dort, wo Kinder am Morgen ausgeglichen in die Kita kommen, sich ein Spiel und vielleicht auch eine:n Spielpartner:in aussuchen und ganz selbstverständlich in das gemeinsame Spiel finden. Dann wenn sich Kinder in Notsituationen Hilfe holen oder in einem Konflikt über ihre Gefühle und Bedürfnisse sprechen können, bezeichnet man sie als ausgeglichen und gut reguliert.
Auch andere trösten können, mitfühlen und für sie eintreten ist ein Hinweis auf eine gelungene Selbstregulation. Solche Kinder nennen wir sozial kompetent und gut entwickelt.
Wenn die Entwicklung anders verläuft
Nicht alle Kinder entwickeln sich so günstig. Nicht für alle gibt es von Beginn an ein Match. Vielleicht werden sie nicht verstanden. Vielleicht gelingt es nicht, sie richtig zu „lesen“ und passend zu unterstützen. Dann ist die Not groß, jedenfalls für das betroffene Kind. Es bekommt möglicherweise nicht die Hilfe, die es braucht. Largo nennt diesen Zustand „Misfit“.
Denken wir nur an Kinder, die sich nicht mitteilen können, weil ihnen (noch) die Sprache fehlt, wegen eines Mutismus, eines Autismus oder viel einfacher, weil sie Deutsch als Zweitsprache erst noch lernen müssen. Ihre Chancen auf Bedürfniserfüllung sind deutlich eingeschränkt, weshalb sie viel mehr Geduld brauchen, die sie aber nicht tagtäglich aufbringen können. Dann scheint es, als sei ihre Selbstregulation nicht altersgemäß entwickelt.
Besonders schwer kann es mit der Selbstregulation werden für Kinder, die durch eine Extremsituation emotional belastet sind. Dazu gehören Trennungskinder und Kinder psychisch oder physisch kranker Eltern. Auch und besonders Kinder mit Wahrnehmungsproblemen können sich nicht gut selbst regulieren, da sie permanent in Überforderungssituationen geraten, die vom Umfeld produziert werden.
Ist der Rahmen zu klein?
Kinder, die aus dem Rahmen fallen, gibt es viele. Kann der Rahmen erweitert und angepasst werden, ohne dabei die anderen Kinder zu überfordern? Ohne die Mitarbeitenden zu stressen oder das Budget der Einrichtung zu sprengen? Diese Fragen sind wichtig, denn eine Veränderung des Alltages gelingt nur im Down-Up-Prinzip. Von unten aus dem Alltag gedacht, können kreative Ideen entwickelt und umgesetzt werden.
Daher ist auch die plötzliche Öffnung im Konzept der Einrichtung nur auf diesem Weg realistisch. Nach dem Up-Down-Prinzip, bei dem der Träger von oben das Offene Konzept beschließt und den Einrichtungen dieses aufzwingt, wird „kein Schuh daraus“, der passt. Eine Passung ist auch auf dieser Ebene notwendig, um den besonderen Kindern gerecht werden zu können.
Mangelnde Selbstregulation und herausforderndes Verhalten
Wenn die Anpassung der Rahmenbedingungen für ein bestimmtes Kind nicht gelingt, kommt es unweigerlich zu herausfordernden Verhaltensweisen. Es hilft nicht, das Kind zu pathologisieren und für die Krise verantwortlich zu machen. Ein Schritt hin zur Passung könnte sein, Maßnahmen zur Deeskalation zu suchen. Maßnahmen im Sinne von Methoden und Materialien in der jeweiligen konflikthaften Situation.
Bo Heijlskov Elvén beschreibt in seinem Buch „Handeln, Auswerten, Verändern“ einige mögliche Wege aus krisenhaften Momenten. Er nennt seinen Grundansatz: „Low arousal“, was so viel heißt wie: das Erregungsniveau herunterregulieren. Wir können uns das so vorstellen: Wer aufregt und wütend ist, dessen Stresspegel steigt bedenklich an. Er oder sie hat sich bald nicht mehr unter Kontrolle und sagt oder tut Dinge, die ihm oder ihr hinterher leidtun.
Der Pegel muss sich also absenken, damit der Mensch wieder klar denken und sein Handeln unter Kontrolle bringen kann. Das gelingt am besten, durch kurzfristige positive Erfahrungen. Aus ihnen entwickeln sich positive Gefühle. Und diese Gefühle – das kennen wir alle – ermöglichen eine sachliche Denkweise und richten die Person innerlich wieder auf. Sie kommt wieder zu Verstand und erholt sich von der Krise. In der Folge kann sie wieder verantwortungsvoll handeln.
Wir sind herausgefordert smart zu bleiben
Gerät ein Kind in eine Krise und zeigt herausfordernde Verhaltensweisen, können wir lernen, ihm aus dieser Situation zu helfen durch Anregungen, Ablenkungen und positive Erfahrungen. Wir selbst bleiben unaufgeregt, weil wir wissen, dass ein Kind dieses Verhalten nicht zeigt, um uns zu provozieren oder jemandem zu schaden.
Wir wissen jetzt, dass ein Kind dieses unangemessene Verhalten nur zeigt, um auf seine Not aufmerksam zu machen und weil es um seine Sicherheit bangt. Es geht immer nur ums Überleben. Niemals sind wir persönlich gemeint. Jedes Kind will grundsätzlich kooperieren, wie Jesper Juul in all seinen Publikationen verständlich macht, durch seine Pädagogik auf Augenhöhe.
Es gibt kreative und smarte Lösungen, Impulse und Materialien, um einem Kind aus seiner Krise zu helfen. Davon handelt das Seminar zum „Unaufgeregten Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen in der Kita“. Sie sind herzlich willkommen 😊
Seminare der Bildungswerkstatt zum Thema Umgang mit herausforderndem Verhalten:
- Frühkindlicher Autismus- Grundlagen für die Arbeit mit autistischen Kleinkindern am 30.10. und 03.11.2025
- Neurodiversität als inklusive Herausforderung am 06.11.2025 oder am 12.06.2026
- Vom unaufgeregten Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen in der Kita am 13.11.2025
- Traumapädagogik – Handlungsansätze für die Arbeit in Kita und Grundschule am 20.11.2025